Eine Zeitlang hatte Dagul sich gefragt, ob seine Reise nicht vielleicht sinnlos sei. Hatte er sich die Stimme nur eingebildet? Nun, nachdem mehr als zwei Wochen seit seinem Aufbruch vergangen waren schien ihm alles so weit weg.
Eines Abends lag er wieder einmal in einer Höhle und hing seinen Gedanken nach. War es vielleicht genau dieses Nachdenken, sein selbst gewähltes Exil, welches nicht den Weg, sondern das Ziel seiner Reise darstellte? Er musste an das hektische Treiben in Athen denken, die langen Tage und häufig noch längeren Nächte, die ihm zwar viele Freunde beschert hatten, jedoch kaum Zeit zum Nachdenken übrig liessen. In diesem Moment entschied er, die Frage nach Sinn und Unsinn seiner Unternehmung zumindest vorläufig nicht mehr zu stellen. Vielmehr genoss er die Ruhe und Abgeschiedenheit. Nur Over bereitete im einige Kopfschmerzen. Sie würde sich vermutlich Sorgen machen. Aber er konnte ihr keine Nachricht zukommen lassen - sie würde versuchen ihn zu finden, sie würde sich seinetwegen in Gefahr bringen. Und das durfte er nicht zulassen. Andererseits würde sie ohne ihn viel besser ihre eigene Freunde finden, ihren eigenen Weg machen. Mit einem Lächeln im Gesicht schlief er langsam ein.
Mittend in der Nacht wachte er von einem lauten Krachen auf. Wenige Meter von ihm entfernt war die Grasnabe verkohlt und schwelte etwas vor sich hin. Rubi-Ka wurde wieder mal von einem der starken Ionenstürme heimgesucht. Seinen Mantel enger um sich wickelnd zog er sich etwas tiefer in die Höhle zurück und schaute in die Dunkelheit, die nun immer wieder von Blitzen zerrissen wurde, gefolgt vom tiefen Grollen der Donnerschläge.
Am nächsten Morgen hatte das Fauchen des Sturms an Intensität zugenommen, sodass er sich entschied, seinen Unterschlupf nicht zu verlassen. Eine getötete Rollerratte lag neben ihm. In der relativ kurzen Zeit, die er sich auf 'Ka befand hatte er das Schöne - und das Gute - mehr als nur achten gelernt. Er hatte sich sogar als Hobbykoch versucht. Trotzdem, auch wenn es nur die zähen, faserigen Überreste einer Ratte waren, er war froh darüber, frisches Fleisch zu Essen zu haben. Er hatte seinen Hunger schon mit Schlimmerem stillen müssen.
Die nächste Nacht verlief ereignislos, und am Morgen durchbrachen tastenden Strahlen die Dunkelheit, als sich die erste Sonne über den Horizont hievte. Dagul blickte aus der Höhle und sah dampfende Feuchtigkeit aus dem Boden aufsteigen. Der Regen hatte aufgehört, der Sturm war weitergezogen.
Gutgelaunt kletterte der Metaphysiker aus dem Loch im narbigen Boden. Das Gras unter seinen Füssen machte bei jedem seiner Schritte schmatzende Geräusche, die Luft roch angenehm kräftig und frisch. Er entschied sich dafür, eine Weile zu gehen und genoss die Natur um ihn herum, ihren Geruch, ihre Geräusche und das weiche Federn des Bodens unter den Stiefeln seiner schweren Rüstung.
Langsam bahnten sich die beiden Sterne über 'Ka ihren Weg nach oben, und lange bevor sie den Zenith erreicht hatten wurde es wärmer und wärmer. Da Dagul mittlerweile den dichten Wald wieder hinter sich gelassen hatte und nur noch vereinzelte Bäume kühlen Schatten spendeten, legte er Ärmel und Brustpanzer ab, klammerte diese an seinen Rucksack und marschierte weiter.
Es waren bereits einige Stunden vergangen. Dagul lief eine lange, aber sehr schwache Steigung empor. Dann hatte er ohne es zu bemerken den Scheitelpunkt erreicht. Das Terrain auf der anderen Seite verlief deutlich steiler, aber dafür nur relativ kurz nach unten. Er atmete tief durch. Der Anblick, der sich ihm bot war wunderschön. Saftige, grüne Wiesen, kräftige Bäume. Überall dazwischen grasten kleinere Tiere und schienen sich noch etwas zu fressen für den Abend sammeln zu wollen, der nun bald anbrechen würde. Er musste unweigerlich an die russgeschwärzten, speckigen und mit unzähligen Flecken übersähten Wände des "Ghettos" denken. Den ewige Regen. Die ewige Nacht. Den nicht endenden Gestank. Einen Himmel hatte er dort nie gesehen, über dem Ghetto herrschte stets schwärzeste Nacht, die von den vielen Feuern, die dort entzündet waren nicht erhellt werden konnte. Dort hatte er gelernt, das Alleinsein zu schätzen - denn nur wenn man allein ist, kann man sicher sein, dass einem niemand in den Rücken fällt.
Mit einer hastigen Bewegung wischte er die düsteren Gedanken beiseite und blickte mit feuchten Augen und einem glücklichen Lächeln auf die zwar nicht ungefährliche, aber dennoch unverhältnismässig freundlichere Welt zu seinen Füssen. Dann zog ein breites Grinsen über sein Gesicht, ein leises Lachen gluckste durch seine Kehle nach oben und er ging in die Knie. Einer plötzlichen Idee folgend rollte er vornüber und kugelte, lachend und Purzelbäume schlagend auf den Fuss der Anhöhe zu.
Unten angekommen blieb er mit gespreizten Beinen lachend im immernoch feuchten Gras liegen. Sein blosser Oberkörper war nass und angenehm kühl, und Dagul fühlte sich hervorragend.
Plötzlich hörte er ein Rascheln hinter sich. Noch ehe er sich aufrichten konnte spürte er einen stumpfen Schmerz im Nacken und rollte herum, während er gleichzeitig nach seinem Dolch griff. Er wusste, dass die Waffe lächerlich war, aber möglicherweise würde sie ihm etwas Zeit verschaffen. Der Blubbag, der ihn angegriffen hatte schnaubte und bewegte sich plump und wackelnd auf Dagul zu. Dieser holte im Liegen aus und traf das vordere Bein des Tieres, welches kurz zurückzuckte. Dagul sprang behende auf die Beine und versuchte, das Nanoprogramm, welches seinen treuen Freund Pinhead manifestieren würde auszuführen. Doch eine Sekunde später rammte der ungelenke, aber schwere Blubbag in mit enormer Kraft in die Seite. Dagul wurde herumgerissen und landete erneut im nassen Gras. Dann war das Tier über ihm. Er spürte einen herben Stoss an der Schulter und das Reissen von Haut. Warmes Blut rann über seinen Rücken. "Verflixt" keuchte er und versuchte sich unter der bulligen Kreatur herauszurollen. Obwohl er sich der Gefahr bewusst war, in dieser denkbar ungünstigen Position dem Tier sein ungeschütztes Gesicht zuzuwenden, kugelte er sich herum. Er war schnell genug - oder hatte einfach nur Glück. Der Blubbag schien sein Opfer skeptisch zu mustern. Diesen Augenblick nutzte der junge Mann und rammte sein kleines Messer in die weiche Brust der kräftigen Kreatur. Er war sich im Klaren, dass eine solche Verletzung keinerlei Gefahr für den Angreifer darstellte. Das Tier grunzte trotzdem kurz auf - und Dagul stemmte sich blitzschnell auf seine Handballen und schob sich unter ihm hervor. Im Gegensatz zu vorhin war er nun konzentriert und reagierte schneller und genauer. Er sprang auf und machte einige Schritte rückwärts. Dann wirbelte er herum und lief los. Hinter sich hörte er wütendes Schnaufen.
Er hatte keineswegs vor, davonzulaufen. Das hatte er oft genug tun müssen - bei seiner Ankunft hatte er sich vorgenommen, dies nicht wieder zu tun. Er ging davon aus, dass sein Gegner nicht zu den intelligentesten Kreaturen Rubi-Kas gehörte und lief mit grossen Schritten sehr knapp an einem Baum vorbei. Kaum hatte er dessen Stamm passiert, brach er nach rechts aus. Wie ein hitzesuchendes Torpedo änderte auch das bullige, cyanfarbene Tier seine Route. Dann hörte Dagul ein dumpfes Krachen, als der Blubbag wie erhofft mit enormer Wucht gegen den Baumstamm prallte. Der Metaphysiker nutzte diesen Augenblick, um nun endlich Pinhead zur Unterstützung herbeizurufen. Der Himmel über ihm kam plötzlich in Wallung, einen Augenblick lang sah es aus, als würde sich nur über seinem Kopf ein Gewitter zusammenziehen. Dann ballten sich die dunklen Wolken zusammen, und den Bruchteil eines Augenblicks später stürzte die dunkle, zerklüftete Gestalt von Pinhead herab. Dagul drehte sich gelassen um. Dann hörte er zuerst ein Zischen, dann ein leises Quieken hinter sich, welches sich, gemischt mit Grunzgeräuschen, in einen tiefen, langanhaltenden und beinahe ohrenbetäubenden Schrei verwandelte. Dann wurde es still.
"Danke, Freund Pinhead", sagte er zwinkernd und setzte sich auf einen kleinen Felsen. Plötzlich begann sein Oberkörper zu erzittern, erst schwach, dann immer stärker. Ein Grinsen verzog sein Gesicht, und er begann zu lachen.
Als er aufgehört hatte, über seine eigene Unvorsichtigkeit zu lachen tastete er mit einer Hand nach der Verletzung an seiner Schulter. Nichts weiter als eine Platzwunde, kein Grund, Morphius zu bemühen. Mit wenigen Handgriffen und der Hilfe von Nanotechnologie verschloss er grinsend die offene Haut.